75 Jahre Möhnekatastrophe: Mit Bomben gegen Talsperren Angriff der Royal Air Force in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 sollte Rüstungsindustrie im Ruhrgebiet schwächen
Eines der dunkelsten Kapitel in der mehr als 100-jährigen Geschichte des Ruhrverbands jährt sich im Mai zum 75. Mal. In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 griffen britische Bomber sechs Talsperren im Sauerland und in Nordhessen mit eigens für diesen Zweck konstruierten Rotationsbomben an, die nach dem Prinzip eines hüpfenden Kieselsteins in Richtung der Staumauer bzw. des Staudamms springen, dort versinken und in der Tiefe explodieren sollten. Für den Angriff auf die Möhne-, Lister-, Sorpe- und Ennepetalsperre des Ruhrverbands sowie die Diemel- und Edertalsperre an der Grenze zu Nordhessen hatten die Piloten der Royal Air Force monatelang trainiert.
Die verheerendsten Folgen des Angriffs gab es an der Möhnetalsperre: Hier erreichte eine der abgeworfenen Bomben ihr Ziel und verursachte einen Riss in der Mauer, der sich durch den Druck der ausströmenden Wassermassen rasch zu einer fast 80 Meter breiten Lücke erweiterte. Mit einer Höhe von bis zu sieben Metern raste die Flutwelle durch das enge Möhnetal und riss alles mit sich, was ihr im Weg stand. In weniger als neun Stunden strömten über 100 Millionen Kubikmeter Wasser aus der Talsperre und ergossen sich bis weit ins Ruhrtal hinein. Häuser wurden fortgespült, Brücken und Straßen zerstört. Das Kraftwerk am Hengsteysee, mehr als 60 Kilometer flussabwärts gelegen, wurde ebenso überflutet wie die Wasserwerke an der mittleren Ruhr. Auf den umliegenden Äckern hinterließ das Wasser unvorstellbare Mengen von Schlamm und Geröll.
Rund 1.600 Menschen kamen bei der Möhnekatastrophe ums Leben, die meisten davon ausländische Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die in einem Lager fünf Kilometer unterhalb der Sperrmauer untergebracht waren. Ein Mahnmal am Standort des durch die Flutwelle ebenfalls völlig zerstörten Klosters Himmelpforten erinnert heute an die Toten in diesem Lager. Auch im Ortskern von Neheim, das heute zu Arnsberg gehört und von der Hochwasserwelle schwer getroffen wurde, gibt es ein Mahnmal für die Opfer der Katastrophe.
Die Menschen in der Region spürten die Folgen der Zerstörung noch monatelang: Die Versorgung mit Trinkwasser war durch die Beschädigung der Stauanlagen und Wasserwerke stark eingeschränkt. Da viele Kläranlagen ebenfalls zerstört oder beschädigt waren, gelangten hoch belastete Industrieabwässer ungereinigt in die Flüsse. In den Rüstungsstandorten Dortmund, Bochum und Hagen lag die Produktion durch den Ausfall von Wasser- und Elektrizitätswerken mehrere Tage lang still.
Nachdem sich Albert Speer, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, bereits wenige Stunden nach dem Angriff persönlich einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung verschafft hatte, begann die „Organisation Todt“, der Bautrupp des NS-Regimes, rasch mit dem Wiederaufbau und setzte dabei nahezu 4.000 überwiegend ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein. Bereits im September 1943 konnte die Möhnetalsperre wieder eingestaut werden. Mit dem Wiederaufbau der ebenfalls beschädigten Grundablässe begann der Ruhrverband allerdings erst 1950. Anschließend wurde als Ersatz für das bei dem Angriff zerstörte Hauptkraftwerk ein neues Werk am Auslauf des früheren Umleitungsstollens für Möhne und Heve errichtet. Das alte Nebenkraftwerk wurde abgetragen und – zusammen mit einem deutlich vergrößerten Ausgleichsweiher – ebenfalls durch ein neues Kraftwerk 400 Meter westlich der alten Position ersetzt.
Auch die nordhessische Edertalsperre wurde bei dem Angriff zerstört; hier fanden Dutzende Menschen den Tod. Die Absperrbauwerke der übrigen angegriffenen Talsperren wurden zwar teilweise stark beschädigt, brachen aber nicht. Zur Abwehr erneuter Bombardements erhielten die Talsperren im Sauerland in der Folge Flakstellungen; allerdings wurden bis Kriegsende keine weiteren gezielten Angriffe auf Talsperren mehr unternommen.
Bildunterschriften ( „Foto: Archiv Ruhrverband“ ):
Foto1 und 2: Durch die 80 Meter breite Lücke in der Staumauer strömten binnen weniger Stunden über 100 Millionen Kubikmeter Wasser aus.
Foto 3: Zerstörtes Haus in Fröndenberg.
Foto4: In Neheim richtete die Flutwelle schwerste Verwüstungen an.